Mit Bildern Bilder überlisten – Synthetisches Sehen

Handschläge sind inflationär. Auf denjenigen von Arafat und Rabin, folgte derjenige von Arafat und Clinton, Clinton und Rabin, Arafat und Hassan II, Rabin und einem amerikanischen Senator ... Die Fotos schwemmten von der Herald Tribune auf den Tages Anzeiger, von der Neue Zürcher Zeitung auf die Weltwoche, von den Frontseiten auf die Kommentarseiten. Doch wer kennt schon das Elaborat, welches mit dem historischen Händeschütteln besiegelt wurde, wer verfolgt nun im Detail die Umsetzung der Paragraphen? Ein Händedruck ist eine Verkürzung, eine Scharfeinstellung, eine Schlüsselszene ohne Kontext, die wir aber auch ohne diesen zu kennen und zu verstehen glauben.

Ihr individuelles Gepräge erhalten sie durch das lokale Kolorit. Arafat erschien in der Uniform und im Palästinesertuch. Ohne diese Aufmachung hätte man ihn wohl kaum erkannt. Doch trotz diesem Close-up einer farbig-folkloristischen Erscheinung scheint das Gesamte grauer zu werden. Je kleiner und farbiger die sich immer mehr teilenden nationalen Einheiten, desto grauer das Ganze, denn bekanntlich ergibt die Mischung al­ler Farben Grau, jedenfalls bei uns: Grau wie die Flanellanzüge auf der Bahnhofstrasse, grau wie die schwarz-weißen Uniformen der Szene, grau wie die Jeans welche die Bluejeans und die blauen Übergewänder der Bauern überrollt haben und überrollen.

Die Ambiguität der bunten Details, die letztlich auch wieder in den neutralen farblosen Raum zurückführen, spürt man auch in Felix Brunners Wandstücken März 93/2, März 93/3 und März 93/4. Seine Händedrucke beruhen auf Xeroxkopien aus Filmzeitschriften oder Tageszeitungen, die er mittels einer Plexiglasscheibe auf die Wand vor ein Farbfeld montiert hat: Purpurrot als Hintergrund für den diplomatischen Handkuss, Rosa für die geheime Schlüsselübergabe zwischen einer Filmdiva im Polka-Tupfen-Kleid und ihrem Verehrer, Gelb für die überdehnten Finger einer indischen Tempeltänzerin und die entschlossenen Griffe eines Uniformierten, der eine Asylantin ausschafft. Man glaubt die Fotos zu kennen und kann sie doch nicht orten. Die Hintergründe sind für die Schlüsselübergabe oder den Handkuss direkt auf die Wand gemalt, oder wölben sich als Trennfläche zweier Aufnahmen von dieser weg, wie die gelbe Fläche, welche die unnatürliche Spannung der zurückgedehnten Finger der Tänzerin und die ineinander verkeilten Arme und Beine von Opfer und Täter aufzunehmen scheint.

 

Nicht immer sind die Fotos in Felix Brunners Arbeiten so klar erkennbar. In Mai 93/3 zeigt die auf ein rudimentär gezimmertes Tablar gestellte Alutafel den nur schattenhaften Umriss eines durch den Raum wirbelnden Beins. Der Schnappschuss aus einer Tanzperformance gleicht einer Wahrnehmung, die durch unser gewohntes räumliches Koordinatennetz gefallen ist. Stürzt die Tänzerin auf uns zu oder kippt sie weg? - Eine Wahrnehmung, dicht an einem dieser fatalen Bewusstseinslöcher, denen jede Vertrautheit mit einer bisherigen Erfahrung abgeht, und auf die man darum nicht reagieren kann. Ein Moment der Blendung, der Orientierungslosigkeit, der ebenso kurz wie endlos ist. Man stockt, schockt, weil einem beispielsweise die Zigaretten aus dem Poschettli vor dem Gesicht durch fliegen und so zweifelsfrei vor Augen führen, dass man sich Kopf unters befindet, oder weil einem das Bein im Nassen schwimmt, da was eben noch Eis und Boden war, nicht mehr ist, oder weil man rundum in Scheinwerfer blickt und daraus schließt, dass man auf einer Kreuzung sitzt....

Und vielleicht muss man auch nur den Kopf drehen, um an den gelben Verschalungsbrettern vorbei weiterzugehen.

In der Installation Februar 1992 sind es vier Einzelelemente, die sich aufeinander beziehen, ohne sich diesen Bezügen wirklich zu fügen: Auf einer an die Wand gelehnten Foto steht eine säuberliche Reihe von Waagen auf einem leeren Ladentisch. Darüber hängt als Xeroxkopie an der Wand eine Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert nach der Aphrodite von Knydos. Das Original der Statue stammt von Praxiteles und ist um 340 v.Chr. geschaffen worden. Überlebt hat die Dame nur in den zahllosen Kopien, in denen sie seit römischen Zeiten durch unsere Kulturen geschwemmt wurde und in verschiedensten Museen, Palazzi und Gärten mehr oder weniger durchwässert an Land ging. So stand und steht sie in klassischen Proportionen und lockerer Ponderation - allen Moden zum Trotz - für ein Frauenideal und für die Entschlossenheit, mit welcher Idealvorstellungen durchgesetzt werden. Die Schönheit wird auch heute nicht nur empfangen, sondern selbstgemacht. Darauf scheint mindestens das Foto mit dem Arzt hinzuweisen, der mit einem Skalpell ein Stück Biomasse zerschneidet. Oder auch die beiden Eier, die von zwei Händen gewogen werden.

Metrik und Empfindung - inwieweit lässt sich Schönheit messen, wägen, schneiden, skulptieren? Inwieweit ist Harmonie Empfindungssache, eine persönliche Balanceübung, ein Eierrollen, ebenso gefährlich für die Eier, wie unergiebig für den Jongleur? Oder ein Rollen von Tai-Chi Kugeln in der Hand, beruhigend für denjenigen, der es tut. weil es ihm hilft, seine eigenen Energiebahnen auszuloten, sein eigenes Gleichgewicht zu finden? Der klassische Traum einer verbindlichen Ästhetik ist jedenfalls längst ausgeträumt. Was bleibt ist die Hoffnung, die Ästhetik durch Ästhetik auszutreiben, aus den sich konkurrenzierenden Idealbildern und Proportionsgesetzen etwas herauszufiltern, das ebenso unindividuell wie eigenwüchsig ist. Und Wachstum beruht ja bekanntlich auf der Photosynthese, darauf, wie Kohlendioxyd mittels Sonnenenergie in Kohlenhydrate umgesetzt wird. Entsprechend wird auch vom Betrachter synthetische Energie gefordert, eine Energie, welche die Fotos verbindet, die Bilder amalgamiert, auch wenn das neu geschaffene Ganze nur für ihn selbst von Bedeutung ist und jeden Moment weiter wuchern kann.

 

Der Arbeit Juli 92/2 liegt ein Foto aus dem Musée d‘Histoire Naturelle in Paris zu Grunde. Auf einem Gestell sind Tierschädel neben Tierschädel aufgestapelt und sortiert. Hier geht es um Vergleiche und deren Irrelevanz, denn das Wesentliche, das, was dem Einzelnen ein individuelles Gepräge gibt, hat keinen Bestand, ist längst vermodert.

Die beiden rechteckigen Fotos sind abwechselnd mit zwei stahlgrauen Farbfeldern auf der Wand montiert. Und irgendwie scheint in deren Anordnung die Erinnerung an ein Hakenkreuz mitzuschwingen.

Um Vergleiche geht es auch in der Installation März 93/1- Über und zwischen fünf Männerköpfen sind Satzanfänge montiert. Die Sätze stammen aus Tageszeitungen und beginnen mit Worten wie: "Während", "Ganz", "Fast", "Wie" - also alles Vokabeln, die Vergleiche einleiten. Die Männerköpfe sind bekränzt, doch aus den fragmentarischen Ausschnitten sind weder die Individuen, noch die Disziplin, in der sie sich gestritten haben, ersichtlich. Sind es Schwing-, Schützen- oder Jodelkönige? Die Absurdität des Wettstreits ist offensichtlich, und so auch die Auswechselbarkeit der Gekrönten.

Bilder sind Wörter und nehmen wie diese je nach Kontext eine andere Bedeutung an. Um diese Semantik scheint es in Installationen wie Mai 93/2 zu gehen. Die bedruckten Schiefertafeln beruhen auf frühen Aufnahmen von Planetensystemen. Diese Fotos aus einem alten wissenschaftlichen Lehrbuch geben topographische und atmosphärische Beobachtungen wieder. Diese Motive werden durch die Großaufnahme von zwei Köpfen unterbrochen. Die beiden Halsausschnitte bilden eine Art Zickzacklinie. Eines der Dekolletés ist mit einer Perlenkette behängt. Der nebenstehende geometrische Stern in einem Kreis ist von einem helvetischen Halsbonbon, dem Läkerol abgeleitet. Kreise, Sterne, Zacken,

Muscheln, Seeigel, Perlen, Köpfe, Knöpfe ... Die Assoziationsketten führen vom Formalen zu Inhaltlichem, vom Inhaltlichen wieder zum Formalen. Diese Art von Gedankenfolgen habt nichts mit rationalem, logischem Denken zu tun, und wird gemeinhin ins Gebiet der Psychiatrie verwiesen. "Looseness of association" und "flight of ideas" werden mit Schizophrenie assoziiert, auch wenn sich darin bis zu einem gewissen Grade die Strukturen eines freien, kreativen Phantasierens und Denkens spiegeln.

Weiße Eier sind in Juni 93/5 in Eierkartons zu einem "don't" ausgelegt. Das noli me tangere wird in dieser Bodenarbeit mit einer Glasscheibe, welche auf vier umgestülpten Trichtern aufliegt, weitergeführt. Auf der Unterseite der Scheibe klebt ein Klebeband. Auf dessen Klebeseite scheint in schwarzer Farbe das Muster einer Baumrinde abgezogen. Wollte man die Rinde - also die Haut des Baumes - berühren, müsste man die Scheibe zerbrechen und damit würde auch das Band -das darunterliegende "Gewebe" - zerrissen. Die Hohlräume von Trichter und Eierkartons sowie die Häute und Oberflächen der Eierschalen, der Glasscheibe, des Gewebes, bilden symbiotische Paare, die nur in gegenseitiger Spannung zu einer sich gegenseitig bedingenden, schützenden Einheit werden.

Salz ist ein Schneckenkiller und macht diese gleichzeitig für uns genießbar. Ohne Salz kommen wir nicht aus. Salz hält uns zusammen, verhindert, dass unsere Lebenssäfte verdunsten. Das Salzgefäss in Kombination mit einem von Borkenkäfern zerfressenen Stück Holz in der Installation Mai 93/1 suggeriert Nahrung, Zerstörung, Konservierung ... Der Borkenkäfer hat Zeichnungen ins Holz gefressen. Was ist Zeichnen und Schreiben mehr, als das Zerkratzen einer integren Oberfläche? Teilen wir durch unsere Gier, etwas in Sprache, in Bilder zu fassen mehr mit, als dass wir mit der Totalität der Welt nicht umgehen können? Indem wir das, was vor uns steht, verschlingen, verdauen und in unsere eigene Sprache fassen, kommen wir vorwärts. Wir setzen Materie um und lassen hinter uns Leerräume, absterbende Gedanken zurück.

Das Foto, auf welchem das Werk 'Juni 93/2 basiert, gibt ein Ausschnitt aus einer Darstellung von Christus wieder, der nach der Auferstehung seinen Jüngern erscheint. Überliefert wird, dass Thomas erst glaubte, als er mit seinen Händen die Wundmale berührte. Die Erotik der sich in den Körper eingrabenden Finger ist auf der merkwürdigen Bildtafel unübersehbar. Wird die Hand in die Wunde geführt oder abgewehrt? Wirkt der handfeste Vertrauensbeweis nicht ebenso brutal wie zärtlich, ebenso sinnlich wie kalt analysierend? "Zeig mir deine Wunde", hatte Beuys gefordert, weil ohne Vertrauen, ohne ein sich Überlassen Liebe eine Floskel und Kunst nur Attitüde ist. Durch das grüne Plexiglas erinnert das Bild an die Aura einer hinter jahrhundertealten Firnissen eingegossenen Altartafel, die durch die Projektionen des Betrachters gleicher-massen lebendig bleibt, wie durch dasjenige, was in den dunklen Farbschichten wirklich auszumachen ist.

Die 49 Vulcanittafeln eines in Wil erstmals gezeigten Multiples lassen sich wie ein Puzzle zusammensetzen. Daraus ergibt sich die Wiedergabe der Aufnahme der ersten Atomexplosion auf den Bikini-Inseln. Der doppelte Ring ist in weißer Farbe als Negativ auf die Dachschieferplatten gedruckt. Auf dem unbedruckten dunklen Stein kippt die Darstellung wieder zum Positiv. Die auf unterschiedlich hohen Sockeln montierten Tafeln sind als Ganzes nur aus der übergeordneten Warte der an der Decke verschraubten Überwachungskamera wahrzunehmen. Von dieser wird die Aufnahme als Standbild in den Nebenraum projiziert. Dort laufen gleichzeitig auf zwei Monitoren zwei Filme, die Felix Brunner anlässlich seines New York Aufenthalts 1991 gedreht hatte.

Der erste Film zeigt zwei Mädchen, die in einer Straße in den Bronx in eine gestaute Wasserlache springen und darin fiktive Schwimmbewegungen ausführen. Ein zweiter Film kombiniert Aufnahmen, die er anlässlich der Victory Parade in New York gedreht hatte, als die Soldaten aus dem Golfkrieg zurückkehrten, als sich Konfettis, Yellow Ribbons und Fähnchen zu einer diffusen Feier von Patriotismus und lower middle-class Leben mischten.

Juni 93/1 und Juni 93/4 sind Gemälde, in denen die Malfläche zur Haut, der Malakt ein sinnliches Streicheln wird. "Touch Wood" werden wir in einer Aufschrift aufgefordert. Die Schriftzeichen sind den T-Shirts der amerikanischen Baseball Equipen entlehnt und führen entsprechend in die Region, wo Mode, Körperkult, physische Präsenz die entscheidende Realität bilden. Sprichwörtlich genommen soll "Touch Wood" Unglück verhindern. Adjektive, die von Holz abgeleitet sind, werden aber auch oft für Menschen gesetzt. "Aus grobem Holz geschnitzt", "hölzern", bedeutet ja immer auch unnahbar. Die Aufforderung zur Berührung hat damit auch mit der Erotik der Imagination, des sich Vorstellens zu tun, des Ertastens, auch wenn das Eigentliche erst hinter der rauhen Oberfläche zu erhoffen und zu erfühlen ist.

Auf einem anderen Gemälde lesen wir S'agit-il d'une broyeuse de cbocolat? Das Duchamp Zitat stammt aus dem Großen Glas. Wie in der Junggesellenmaschine dreht sich in Brunners Gemälde das Rad der Selbstbefriedigung. Hier allerdings - im Zeichen der Zeit - als Pneu und Zahnrad. Beides sind Räder, die nur eine genau definierte Funktion erfüllen können, so aber, ohne Speichen, Achse, umfassende Maschinerie absolut zwecklos scheinen. Sie tauchen auf und verschwinden. Es sind symbolgeladene Ready Mades, die gleichzeitig als Versatzstücke unseres Alltags eine bestimmte Vorstellungswelt evozieren. Bei einem rollenden Pneu rollen auch die Vorstellungen eines Geländewagens, Bilder von Freiheit und Abenteuer mit.

 

Malerei hat etwas mit Selbstbefriedigung zu tun. Emotional kommt das zurück, was man investiert. Jasper Johns hat eines seiner Werke Skin betitelt. Auch für Felix Brunner ist Malerei ein sinnliches sich Herantasten an die Wirklichkeit. Eine Illusionszerstörung, die nur dann gelingt und die nur dann zu neuen Emotionen führt, wenn man Illusionen beim Namen nennt, sie malt und damit bannt. Aus dieser Warte hebt sich das Gemälde als in sich geschlossene, selbstreferentielle Entität auf. Es lebt von den Projektionen - des Malers und der Betrachter - und lässt diese Vorstellungen gleichzeitig durchsichtig werden. Es ist ein Spiegel mit blinden Stellen, die, sollen sie Durchblicke ermöglichen, geputzt werden müssen. Geputzt von unseren Projektionen, um so den gespiegelten Einzelelementen die Gelegenheit zu geben, sich vor einem veränderten Hintergrund neu zusammenzusetzen.

Jean Baudrillard hatte unsere Zeit als die Zeit nach den Worten bezeichnet. Botho Strauß schreibt von der "Beginnlosigkeit" und stellt die Frage: "Wie kann der Mensch mit der Erkenntnis der absoluten Beginnlosigkeit, die eine Beginnlosigkeit nicht nur der Schöpfung, sondern, davon ausgestreut metastatisch ins Geäder des Bewusstseins, eine Beginnlosigkeit von allem und jedem sein muss - wie kann er in einem solchen Erkenntnisstand sich und die Welt erleben und welche Folgen hat dies unweigerlich für alles und jedes?"

 

Felix Brunners Werke gehen zwar von existierenden Worten und Bildern aus, doch zeigen sie auf, dass die Grammatik, die Strukturen, durch welche sie zusammenhängen, lose sind und individuell immer wieder neu geschaffen werden müssen. Die Forderung nach einer Universalisierung der Sprache reduziert diese immer mehr auf ein Set von frei kombinierbaren Vokabeln und Piktogrammen. Doch die Aura eines Wortes, die Vorstellungen, welche sich damit verbinden, sind individuell verschieden und können nur aus dem Zusammenhang erahnt werden. Inwieweit sind daher Worte oder Bilder überhaupt übertragbar? Inwieweit beschreibt und tapeziert damit nicht jeder einzelne seine eigene Welt?

Wenn Felix Brunner darum eine Serie von "Aneignungen" gemalt hat mit Rahmen für Gemälde, die in den vergangenen Jahren gestohlen wurden, so stellte er damit auch die Frage, ob Bilder sich überhaupt stehlen lassen, ob sie reale Güter sind, welche man kaufen, kopieren, zerstören und wiederherstellen kann. In seinen neueren Gemälden scheinen die Folgerungen weitergetrieben. Bilder sind zwar nur Oberflächen, man greift nur Holz, man stößt auf blinde Stellen. Aber auch dies ist nicht ohne Reiz, denn wie sonst soll die Neugierde geweckt werden, die Begierde und die List, die einem durch die grobfaserige Leinwand in feiner gewobene Regionen des eigenen Empfindens weiterdringen lässt?

Katalogtext: Claudia Jolles, 1993