Widersetzung

Unsere Bilder sind von Begriffen besetzt und ertrinken in ihrer eigenen Flut. Indem der Zürcher Künstler Felix Brunner (geb. 1952) versucht, die Begriffe von ihrem vorgefassten, gesellschaftlich sanktionierten Gebrauch zu befreien, führt er auch der Qualität des Bildnerischen neue Impulse zu; Schrift und Bild bestimmen seine Arbeiten in einer vielschichtigen Interaktion. Die Schriftelemente übernehmen dabei keine begleitende, erklärende, bejahende Funktion. Felix Brunner verzichtet denn auch auf Titelsetzungen, da sie ihm zu affirmativ und determinierend erscheinen. Die Schrift soll dem Bild vielmehr als autonome Komponente entgegentreten, soll sich ihm widersetzen und aus einer spannungsvollen Dialektik unerwartete Assoziationen freilegen. Nicht die Schrift als auf die Linie gezwungenes, rational codiertes Instrument des Wissenschaftlers interessiert ihn, sondern die Schrift als poetisches Evokationsmedium, als formbares Gestaltungsmaterial.

Die unser historisches Bewusstsein beglaubigende, alphabetische Schrift hat mit ihrem Monopol des Wortes die Sinnlichkeit des Bildes zu verdrängen versucht. Der byzantinische Bilderstreit, der Buchdruck, die reformatorische Glaubensbewegung und die diktatorischen Regierungen, sie alle sahen im Bild eine Gefahr für ihre schriftlich zementierten Doktrinen und Ideologien.

Kein Verbot jedoch vermochte den heutigen Ansturm von Bildern einzudämmen. Als technisch reproduzierte Affichen und Plakate haben sie allerdings inzwischen ihre gefährliche Hintergründigkeit, ihren subversiven Fragecharakter und die übergreifende Ausdruckskraft eingebüsst. Als billiges Konsumgut machen sie eher blind denn sehend. Diesem Vorgang einer zunehmenden Entsinnlichung, die mit einer seelischen Abstumpfung einhergeht, möchte Felix Brunner mit seiner Arbeit entgegenwirken.

 

Was wäre die 1994 entstandene, grossformatige, mit feinen Farblasuren überzogene Leinwand anderes als ein weiterer Beitrag zur kontrolliert gestischen Malerei, wenn sich da nicht vor dem gelben Grund Schriftzeilen in schönem Duktus ausbreiteten? Und was wäre der Text mehr als andere schriftliche Vorlagen, liesse er sich problemlos entziffern? Jedoch, den Buchstaben fehlt der oberste Teil, so dass sie als unleserliche Zeichenzeilen zu einer Partitur werden, die den Betrachter in ihrem fremdvertrauten Erscheinungsbild herausfordern und ihn im Schwebezustand eines unerfüllten Begehrens zurücklassen. Sie geben ihm Fragen auf, die über das Skripturale hinaus auf den Bildcharakter verweisen und aus dieser Spannung heraus die Wahrnehmungsmöglichkeiten des Betrachters erweitern und aktivieren. Auch die vier aus einem Magazin ausgeschnittenen und in vergrösserter Form auf einer dezent bemalten Leinwand aufgeklebten Vögel würden, stünden sie für sich allein, vom Betrachter schnell überflogen. Da böte auch der in lateinischen Lettern ausgeschriebene zoologische Name keinen Einhalt. Er befriedigte nur den enzyklopädischen Wissensdurst, denn, was einmal bezeichnet ist, lässt sich bequem schubladisieren und bedarf keiner weiteren Hinterfragung mehr. Der in kyrillischer Schrift hinzugesetzte Name weitet dann allerdings den Horizont. Zwischen den Alphabeten öffnet sich der schier grenzenlose, von den Vögeln durchmessene Raum zwischen Europa und Asien. Auch die kyrillische Schrift verliert aber heute, nach der politischen Öffnung, zusehends ihren Rätselcharakter. Recht eigentlich attraktiv, den Blick fesselnd, wird das Bild erst dadurch, dass Felix Brunner die Worte durchstreicht. Erst wenn ihr Sinn nicht mehr auf die lexikalische Bedeutung festgelegt ist, werden sie wieder bedeutsam und beginnen auch mit den malerischen Qualitäten zu spielen, auf sie aufmerksam zu machen.

Die Schrift hat aber nicht nur über sich hinausweisende Funktion, sondern sie besitzt auch eigenbildnerisches Potential. Felix Brunner wählt die typographischen Zeichen sehr bedachtsam, weiss er doch als gelernter Schriftsetzer vom eigenwilligen Charakter eines Schrifttypus und passt ihn in seinem überindividuellen und doch spezifischen Ausdruck der malerischen Gestimmtheit des Bildes an. In keiner anderen Arbeit wohl kommt die oft paradoxe Verwobenheit von Bild und Text, von Sinnlichkeit und Intellekt, die einander stimulieren, trefflicher zum Ausdruck als in dem 1990 geschaffenen Wandobjekt, das von einer aus Legosteinen gefügten, in Blindenschrift ausgeführten Zeile bestimmt ist, die fragt «Siehst du mich?» Der Sehende wird nichts entziffern können, der Blinde aber wird tastend erschauen.

Text in Artis: Angelika Affentranger-Kirchrath, 1994