Komplexe Übersicht - übersichtliche Komplexität

«Das Leben ist wie ein Gemälde;

um schön zu erscheinen, muss es aus der Entfernung gesehen werden.»

(Gustave Flaubert, «Jules und Henry»)

Spätestens seit dem Zeitalter der Raumfahrt weiss die Menschheit das Bild ihres Planeten aus der grossen Vogelperspektive zu beurteilen, und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis nationale Identitäten und Verwaltungsstrukturen globalen Ansprüchen genügen werden. Die Popularisierung und Vernetzung der Kommunikationsstrukturen zaubert problemlos den Kosmos per Knopfdruck ins bürgerliche Wohnzimmer. Der mediale Overkill scheint unausweichlich. Immer differenziertere Erkenntnisse fordern entsprechend differenzierte Wahrnehmungsmuster und fördern implizit die Sucht nach noch kleineren Untersuchungseinheiten. Die Teilchenforschung mag als Beispiel für diese ungebremste Tendenz der unendlichen Fragmentierung in der Wissenschaft gelten, und das Aufeinanderprallen von qualitativen und quantitativen Wachstumstheorien signalisiert erstmals einen grundlegenden Paradigmenwechsel in Wirtschaft und Politik. Über­sichtlichkeit und Komplexität formulieren schliesslich das einschneidendste Paradoxon des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Gerade die Welt der Bilder wird immer stärker in den Dienst dieser allgemeinen Entwicklung gestellt. Zuerst die Fotografie, dann der Film, das Fernsehen und heute das Video eröffnen einerseits dem Bilder-Produzenten eine ungeahnte Perspektive bezüglich der Popularisierung der Produktionsmittel, andererseits stellt die Bilderinflation den Konsumenten vor das Problem des selektiven und strukturierten Sehens. Denn mittlerweile hat die sogenannte Postmoderne jegliche stilistische Vereinnahmung untergraben und unter Zelebrierung des «Anything Goes» dem Bildbetrachter eine didaktische Orientierung verweigert. Partikularismus, Eklektizismus und fragmentarisches Arbeiten sind die künstlerischen Wahrzeichen dieser Dekade. In diesen gesamtgesellschaftlichen Kontext ist das Werk des Zürcher Künstlers Felix Brunner einzuord­nen. Seine zwischen Chaos und Ordnung pendelnden Arbeiten bringen das Paradoxon zwischen Übersicht und Komplexität augenfällig auf den Punkt und fordern ultimativ den Diskurs. Seine Malerei ist expressiv-gestisch und konzeptuell zugleich, verharrt im Fragment und spielt mit kunstgeschichtlichen Attitüden. Felix Brunners «malerisches Konzept» stützt sich im Wesentlichen auf die Erkenntnis, dass sowohl Einheit und Fragment als auch Chaos und Ordnung in direkter Beziehung zueinander stehen, mitunter sogar direkt aus einander hervorgehen.

Farbschichten türmen sich monumental auf der groben Leinwand und überdecken deren textile Struktur. Hunderttausende von Pigmenten bilden eine einzelne Schicht, formen eine physische Präsenz und sind die konstitutiven Elemente dieser synthetischen Realität. Immer wieder werden dieselben Überlagerungen von Gegenständlichem und Abstraktem, von Form und Grund, von Struktur und Unordnung und von Gefühl und Verstand an den Betrachter herangetragen. Die Präsenz übermalter Farbschichten, die dem menschlichen Auge verborgen bleiben, kann unter diesen Bedingungen nur erahnt werden. In diesem Ansatz artikuliert sich der projekthafte Charakter von Felix Brunners gesamtem Schaffen, das an wissenschaftliches Forschen und Suchen erinnert. Er strebt jedoch keine eigentliche, der wissenschaftlichen Logik verpflichtete Beweisführung an, sondern verlegt sich auf die deskriptive Konfrontation von scheinbar Bekanntem und Akzeptiertem in einem ungewohnten Kontext. Ritualisierte Rezeptionsmuster, visuelle Topi und Dogmen wie auch irritative Momente werden einander gleichwertig gegenübergestellt. Das Geheimnisvolle wird mit dem Offensichtlichen konfrontiert und das Umrisshafte mit dem Formlosen. Technische Versatzstücke wie Zahnradfragmente, Punkteraster, Türklinken, Kuben, typografische Elemente oder die Kugelform stehen hierbei für das scheinbar Gegenständliche, springen auf den ersten Blick ins Auge. Die malerische Textur des Hinter- und Untergrundes kann hingegen nur abstrakt gelesen werden und verwehrt sich weitgehend einer definitiven Identifikation.

Verändert der Betrachter jedoch seine Position und untersucht die vormals gegenständlichen Formen aus unmittelbarer Nähe, so mutieren sie zu denselben abstrakt-gestischen Texturen, wie man sie im Hintergrund zu erkennen glaubte. Dieses Neben-, Mit- und Übereinander von Abstraktem und Gegenständlichem verdeutlicht die gegenseitige Abhängigkeit, ja die notwendige Koexistenz dieser als unvereinbar geltenden Begriffe. Das oszillierende Hin und Her zwischen der Übersichtlichkeit und der Komplexität in Felix Brunners Malerei mag schliesslich für die Aufhebung dieser kategorisierenden Grenzen plädieren und eine dialektische Sehweise fordern, welche sich entschieden vom isolierenden Partikularismus - welcher der bürgerlichen Stilkunde eignet - distanziert. «Siehst du mich», fragt die in der Shedhalle gezeigte reliefartige Arbeit. Die in Braille-Schrift gehaltene, rhetorische Frage bringt auf den Punkt, was eine verbildete Kunstrezeption seit Jahrzehnten durch Pseudowissenschaftlichkeit krampfhaft zu vertuschen sucht. Man kann die aus Lego-Steinen aufgebaute Konfiguration durchaus als rein optisches Phänomen betrachten, da Strukturen, Formen und Flächen deutlich erkennbar sind. Insbesondere weil nur ein kleiner Teil der Betrachter über Kenntnisse der Blindenschrift verfügt, ist die verbale Übersetzung des derart inszenierten Orakelspruchs keinesfalls gewährleistet, und der Rezipient wird letztlich auf die rein visuelle Präsenz des gezeigten Kunstwerkes zurückgeworfen. Wie dies der Blinde tun muss, so wird auch der Betrachter aufgefordert, das Relief zu berühren, die Vertiefungen, die Kuppen und die Kühlheit des Materials zu betasten und zu be-greifen. Der Bildcharakter kann demzufolge weder als reine Objektivierung noch als prototypische Abbildung gele­sen werden, sondern er zwingt den Sehenden wie den Blinden - will er ihn ganzheitlich erfahren - sowohl durch seine funktionelle als durch seine ästhetische Präsenz in ein und denselben Mechanismus der Wahrnehmung.

Katalogtext: Christoph Doswald, 1990