Wenn Dinge ihren Namen verlieren

Die «Ungewissheit in den Regungen des Geistes» liess Dschuang Dsi, ein chinesischer Erzähler, vor zweieinhalbtausend Jahren gegen den «wahren Sinn» antreten, als er in einer Parabel einen Gärtner erklären lässt, dass derjenige, der Maschinen benutze, alle seine Geschäfte maschinenmäßig betreibe und ein Maschinenherz bekomme. Die Erzählung schliesst mit der Moral: «Wenn einer aber ein Maschinenherz in der Brust hat, dem geht die reine Einfalt verloren. Bei wem die reine Einfalt hin ist, der wird ungewiss in den Regungen seines Geistes. Ungewissheit in den Regungen seines Geistes ist etwas, das sich mit dem wahren Sinn nicht verträgt».

Was hier mit der Gelassenheit eines Wissenden ausgesprochen ist, wirkt zweieinhalbtausend Jahre später wie eine samtene Untertreibung dessen, was wir über die Zweifel des modernen Denkens, über die Krise der heutigen Welt sagen können. Wir sind nicht nur ungewiss, wir haben vielmehr für längere Zeit die Mitte des Lebens verloren. An ihre Stelle setzten sich Teilmeinungen, die mit der Geschwindigkeit von Kleidermoden wechseln; an die Stelle der Sicherheit trat die Notwendigkeit, mit gegensätzlichen Wahrheiten leben zu müssen, die sich vorläufig nicht vereinbaren lassen.

Die Ursachen dafür sind ebenso vielfältig wie allgemein bekannt, nur vergessen wir über der endlosen Klage des Wertezerfalls in der hochtechnologischen, spätkapitalistischen Welt leicht den wesentlichen Umstand, dass sich dieses ökonomische System wohl irgendwann zum Besseren korrigieren lassen könnte, während hingegen die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften unser Dasein und unser Weltbild für immer erschüttert, ja revolutioniert haben. Erinnern wir uns an drei der wesentlichen neuen Erkenntnisse:

In der Entwicklung der Elektrizitätslehre im vergangenen Jahrhundert stellte sich heraus, dass nicht die Materie entscheidend ist, sondern das Kraftfeld, in dem sich die Teilchen bewegen. Dieses neue Wissen liess die Physiker den Glauben an die Einheit eines letzten, entscheidenden Substanzteilchens aufgeben, zugunsten der Einsicht, dass nicht die Substanz, sondern die Relationen das Eigentliche sind.

Anfang unseres Jahrhunderts schockte die Relativitätstheorie die Gewissheit der Unabhängigkeit unserer beiden Ordnungssysteme Raum und Zeit - eine Grundvoraussetzung unseres Denkens. Es konnte nachgewiesen werden, dass Raum und Zeit direkt voneinander abhängen und damit das, was wir bisher unter Gegenwart verstanden haben - die hauchdünne Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft -, plötzlich länger und länger dauert, je nach Ortsabstand zwischen Ereignis und Beobachtung. Und schliesslich erwies sich bei der Untersuchung der kleinsten Bausteine der Materie, dass Beobachtungsort und -Vorgang das Verhalten der Atomteilchen derart beeinflussen, dass wir fortan nur noch von unserer Kenntnis der Natur, aber nicht mehr von der Natur an sich sprechen können.

Diese Forschungsresultate der Elektrizitätslehre, der Relativitätstheorie und der Quantenphysik sprengen das abendländische Weltbild. Sie entziehen unserer Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik die Grundlagen und tendieren allmählich dahin, das zu etablieren, was Bertrand Russell bestimmt, aber gelassen ausge­sprochen hat: «Die Materie ist weniger materiell und der Geist weniger spirituell, als gemeinhin angenommen wird. Die gewohnte Trennung von Physik und Psychologie, von Geist und Materie, ist metaphysisch unhaltbar.» In anderen Worten: Diese Erkenntnisse dynamisieren, wörtlich verstanden, unser Weltbild, denn es liegt plötzlich nahe, die Energie und ihre Kraftfelder als das «Letztmögliche» zu verstehen; Energie, die mal eine materielle, mal eine geistige Form annimmt. Und über diesem Wissen steigt erneut und verstärkt die romantische Trauer auf, dass der Mensch immer nur sich selbst begegnet, seiner selbst geschaffenen Welt und seinem Wissen von ihr.

Diese geistige Revolution, die von unserem Denken bis heute als fast unzumutbar empfunden wird, zeigte tiefe Auswirkungen auf das Kunstschaffen der letzten Jahrzehnte. Darauf soll hier nicht eingegangen werden, aber es war wichtig, die Bedingungen des gedanklichen Umfeldes, dem die Arbeit vieler Künstler und be­sonders diejenige Felix Brunners entspringt, nicht stillschweigend vorauszusetzen, sondern darzulegen.

 

Felix Brunners Werk der letzten drei Jahre pendelt zwischen Melancholie und Euphorie, zwischen der oben beschriebenen romantischen Trauer über Verlust und Einsamkeit und der Lust an diesem Schmerz, am Verlust der Bodenfestigkeit. Es spiegelt die Freude am geöffneten Raum, an den Brüchen und Schnittstellen des Weltbildes. «Pendeln» ist vielleicht ein voreiliges Wort, denn bisher ist erst der Weg hin - von einer melancholischen Beschwörung hin zur Lust am Fliegen - zu entdecken und noch kein Weg her - also zurück zum Ausgangspunkt - zu sehen. Aber die «potentia», die Möglichkeit des Zurückpendelns, scheint mir im Werk angelegt..

Die Bilder von 1985 und 1986 «zelebrieren» die Melancholie. Auf grossformatigen Leinwänden beschwört Felix Brunner den Untergang der Dingwelt und der materialistischen, zweckgerichteten Sichtweise der Welt. Vor seinen figurativen Bildern fügt sich eine Reihe von Assoziationen zu diesem Eindruck: Ein Beleuchtungsturm erinnert an hellere Zeiten, als die Übersicht noch gewährleistet schien - jetzt steht er verloren und verlassen da. Eine Treppe zeugt vom ehemals zielstrebigen Aufstieg - auf dem Bild wird dieses nun ebenerdig ausgestreckte Hilfsmittel zum Hindernis und zum Relikt eines vergangenen Zweckoptimismus', der einer gegenwärtigen Ziel- und Hoffnungslosigkeit gewichen ist. Betonverstrebungen - einst Zeichen der Machbarkeit der Welt - wirken, funktionslos geworden, fragil und zerbrechlich: Sie stützen das Nichts. Räderwerk, hart durch die Begrenzung der Leinwand angeschnitten oder als Fragment totalisiert, wandelt sich zum schauerlich-schönen Mahnmal einer Welt, in der gigantische Abläufe zum Leerlauf verkommen sind. Stützbalken können gedanklich über die Begrenzung des Bildes weitergeführt und zu Buchstaben einer Sprache zusammengefügt werden, die vorgab, mehr zu wissen, als sie meint, nämlich zu wissen, was ist. Ein Metallgitter weckt die Assoziation, dass die konstruierte Dingwelt der unverhofften Öffnung des Raumes nicht folgen konnte. Mauerreste und Treppen sind die sichtbaren Überbleibsel einer Stadt, die - am fixen Glauben an ihre bestens funktionierende Struktur? - gescheitert und im Sand versunken ist.

All diese Versatzstücke umhüllt ein Hauch melancholischer Schönheit, der Schönheit eines verwelkten Blütenblattes vergleichbar, das, seiner Funktion und seinem eigentlichen Sein enthoben, nur noch auf das Nichts, auf den Tod verweist. Felix Brunner gelingt es in diesen Bildern, gegensätzliche Zustände in einer paradoxen Schwebe zu halten: Er monumentalisiert die Fragmente und gleichzeitig löst er sie mittels einer all-over Farbflusstechnik wieder auf; er akzentuiert sie und lässt sie ebenso in einem offenen Raum aufgehen. Düstere Farben, die häufig monochrome Behandlung von Vorder- und Hintergrund sowie das Streiflicht einer verborgenen Lichtquelle: alle diese Mittel erzeugen zusammen die Illusion eines magisch-monumentalen Realismus, gleichsam die Vision des letzten Realismus' der Dinge, bevor sie sich auflösen. Ein trauriger und zugleich grossartiger Untergang; das Sinnbild für die Auflösung der hermetischen Kultur und Zivilisation des Abendlandes. Zugleich aber, in Erweiterung des Gegenwartsbereiches um die Vergangenheit, lassen sich diese Zeichen auch als Erinnerung an den ursprünglichen, reinen Zustand vor der Verdinglichung und «avant la lettre» lesen, an die Zeit, «bevor der Gegenstand die Idee zertrümmert» hat. Felix Brunner sehnt sich nach dem Niemandsland «abseits der möblierten Welt», nach der Baugrube, in deren Vibrato zwischen Untergang und Aufbruch, zwischen Anfang und Ende die «Sehnsucht nach neuen Horizonten» eine Möglichkeit wähnt.

Die Werke, die in diesem Katalog abgebildet sind, entstanden alle 1987, also nahezu in direkter Nachfolge der «Fragmentbilder». Über wenige Versuche, in denen die Gegenstände an Erkennbarkeit und Bedeutung verlieren und zu neutralen flächig-geometrischen Formen ausgewalzt werden, gelangt Felix Brunner zu diesen Lösungen, die von ihrer stilistischen Erscheinungsweise her so radikal anders anmuten, vom inhaltlichen Konzept her aber nur den nächsten konsequenten Schritt darstellen: den Schritt über die Grenzen. Statt dass die Farbe weiterhin zur festgefügten Form gerinnt, zum Gegenstand von Melancholie und Einsamkeit, wird sie offen verstrichen. Der Illusionsraum wandelt sich zum verwischten Farbraum, die gerich­tete, raumerzeugende Lichtsetzung wird weggeblendet und die Lichtquelle gleichsam in die Farbfläche gesetzt. Felix Brunner spricht von Entmaterialisierung: Das Materielle, Dingfeste verliert seine träge, festumrissene Gestalt, die Farbe wirkt dynamisierend, das Bild wird zum Energiefeld.

Dieser Veränderung der Bildmorphologie entspricht eine neue Malweise. Mit einer Holzleiste treibt Felix Brunner die Farbe über die Leinwand zu Schichten, mit einem Naturschwamm verwischt er die Grenzen. Durchdringen, verdichten, dezentrieren: Farbenergieknoten dehnen sich aus oder ziehen sich zusammen, in expressiver Vitalität. Doch die Expressivität ist kontrolliert, denn das Thema ist nicht die Übertragung von Körpergesten auf die Leinwand, sondern die Darstellung explodierender Energie, die den Gegenstand zum Feld abrollt, die Masse in Schwingungen versetzt und den definierten Raum öffnet. Die klassische Perspektive muss einem «polyperspektivischen» Raum weichen. Schichten ziehen auf, überlagern sich, verfliessen ineinander oder grenzen sich hart gegeneinander ab. Innen und aussen, hinten und vorne, Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen. Es entsteht die Vision eines unendlichen Raumes, in dem dann und wann eine Konfiguration zur Membrane wird, an der sich Projektionen niederschlagen, gleich Ausfällungen, die sich im Raum-Zeit-Kontinuum der Seele plötzlich bilden. Freie, aber bestimmte Gesten oder geometrische Formen treten heraus und schweben als glasklare Kristallisations- oder Kontrapunkte in Raum.

In diesen Bildern findet die Melancholie selten Zugang, sie macht einem aktiven, dynamischen Prinzip Platz. Das Leiden hat sich zur Lust gewandelt: eben zur Lust an Brüchen, Schnittstellen, Grenzüberschreitungen. Konstruktives und frei Gestisches prallen aufeinander, Komplementärfarben reiben und stossen sich giftig aneinander, rauher und geschliffener Farbauftrag kämpfen miteinander. Grenzen zu Biederkeit, Kitsch oder Pathos werden bewusst tangiert oder überschritten. Immer aber hält die Leinwand diese auseinander­strebenden, den Rahmen sprengenden Elemente in einem labilen Gleichgewicht zusammen: die Bildeinheit bleibt gewahrt. Diese Werke lassen sich als Sinnbilder für eine Welt verstehen, die den wahren Sinn und die Ordnung verloren hat und in der wir versuchen müssen, mit den verschiedenen sich widersprechenden Wahrheiten zu leben - ein Chaos mit Augenblicken der Gewissheit..

«Zwischen Augenblick und Unendlichkeit vibrieren die Gefühle und Ahnungen, und die Gedanken versuchen so etwas wie ein System ins Unfassbare zu bringen», erklärt Felix Brunner. Das sei wie das Spielen mit den Elementen und der Umgang mit Zuständen, in einer Sphäre, in der es keine Gegenstände gibt, sondern nur noch Intensitäten. Seine Wahl fällt auf das Ungewisse Sein, ihr Opfer ist die festumrissene Welt, der Anker der Gewissheit, der Name der Dinge.

Katalogtext: Urs Stahel, 1988